Gerhart Baum: Weltbürgertum statt Leitkultur

Jeder hat das Recht auf seine eigene Kultur und seine Religion, es sei denn, sie steht im Widerspruch zum Grundgesetz. Der Verfassungsminister – und das ist der Bundesinnenminister – sollte sich mit den ernsthaften Gefährdungen der Verfassung auseinandersetzen. Zu denen gehören sicherlich auch grundgesetzfeindliche Haltungen im Bereich des Islams, unter anderen vertreten durch einige Imame, die Einfluss auf junge Muslime haben. Es ist eine mühsame Aufgabe, verführbare junge Menschen vor Radikalisierung jeder Art zu bewahren. Da muss etwas geschehen. Wie es de Maizière aber macht, wird Abgrenzung zur Ausgrenzung. Glaubwürdig sind wir nur dann, wenn wir uns selbst an unsere Verfassung halten. Wir müssen das die Verfassung tragende Prinzip des Schutzes der Menschenwürde auf immer neue Situationen anwenden. Das ist in der Geschichte unseres Landes schon immer eine große Kraftanstrengung gewesen. Unsere Gesellschaft, auch die politisch Verantwortlichen, sind immer wieder „Versuchungen der Unfreiheit“ (Ralf Dahrendorf) ausgesetzt. Warum werden Gesetze verabschiedet, denen die Verfassungswidrigkeit auf der Stirn geschrieben steht – und die dann von Gerichten aufgehoben werden? Warum haben viele Wähler den Eindruck, ihre Probleme werden nicht wahrgenommen, und reagieren mit Politik- und Parteienverachtung? Was hat zu Demokratieskepsis und einer gewissen Demokratiemüdigkeit geführt? Warum führen Positionen, die Angriffe auf die grundgesetzliche Ordnung sind, noch viel zu wenig zu zivilgesellschaftlichem Protest? Ich meine zum Beispiel Angriffe auf die Religionsfreiheit, oft pauschal gegen den Islam gerichtet, und vor allem auch Aktionen, die bestimmt sind von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in einem Land, das Verantwortung für den Holocaust trägt.


Wie nimmt der Staat seine Schutzfunktionen wahr im Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit und zwischen dem Sozialstaatsgebot und der Freiheit? Was tut er gegen die massiven Einschränkungen der Selbstbestimmung durch neue Kommunikationstechnologien? Ich hätte es verstanden, wenn der Innenminister, der sich ja oft besonnen gezeigt hat, diese und andere Herausforderungen zum Anlass genommen hätte, einen Aufruf zur Stärkung unserer Demokratie zur Diskussion zu stellen. Unsere Identität – und da spreche ich als einer, der Krieg und Zusammenbruch erlebt hat – konnte sich entwickeln, weil wir offen mit unserer Geschichte umgegangen sind und letztlich mit einigen Mühen eine doch geglückte Demokratie aufbauen konnten. Identitätsstiftend ist die Art, wie wir unsere Werte auch in Krisen leben. Diese Tradition müssen wir denen, die zu uns gekommen sind, vermitteln. Wir müssen ihnen erklären, wie das Grundgesetz zustande gekommen ist. Natürlich gibt es ein Gemeinschaftsbewusstsein der Deutschen und deutsche Interessen, und jeder von uns hat auch eine Heimat. Aber das alles ist untrennbar verbunden mit Weltoffenheit und Toleranz. Dafür steht die Wissenschaft. Dafür steht die Kunst, für die es nie Staatsgrenzen gab. So kann man auch nicht Goethe oder Bach einer Leitkultur zurechnen, wie der Innenminister meint, ebenso wenig wie Shakespeare, Dante oder Mozart.

 

 

Gerhart Baum

Rechtsanwalt

Bundesminister des Innern a.D.